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Freunde für’s Leben

Franz Rieder • Durch die Finanzkrise auf dem Markt der Eitelkeiten       (nicht lektorierter Rohentwurf)   (Last Update: 20.05.2019)

Der konzentrierte Blick auf optimierte Allokationsprozesse schien Freunde fürs Leben zu schaffen. Wirtschaft im Verein mit dem Staat versprachen die Lösungen fast aller volkswirtschaftlichen wie internationalen Schwachstellen im Marktgeschehen. Anstatt Systemrisiken und Systeminstabilitäten zu fokussieren, zeigten sich staatliche Institutionen flexibel genug, um mit Deregulierungsmaßnahmen auf Standortvorteile anderer Finanzmärkte bzw. Börsenplätze zu antworten und so auf den globalen Finanzmärkten auf vorderen Plätzen mitzuhalten.

Ein neuer Begriff prägte sich ein: der Finanzkapitalismus, der den der Marktwirtschaft stetig überbordete und einige Volkswirtschaften wie die US-Volkswirtschaft und die des Vereinigten Königreichs sahen in der Deindustrialisierung keinen problematischen Prozess mehr, sondern die fundamentale Verschiebung von der Realwirtschaft zu einer zunehmend auf Finanzdienstleistungen und IT ausgerichteten Wirtschaft geradezu ein geschichtliches Geschenk Gottes mit diesen beiden Ländern als Meistbegünstigten.

Die Überschwemmung der Finanzmärkte selbst mit einem Tsunami an sog. Finanzinnovationen sowie der Deregulierung aller damit verbundenen Dienstleistungs- und Finanztransaktionen ließen die Sektkorken knallen und in den Finanzministerien die dicken schwarzen Marker über bestehende Gewerbe- und Umsatzsteuerregelungen gleiten. Und bei der Gründung sog. Steuerparadiese war und ist man bis heute wenig zimperlich gewesen. Nicht nur Schweizer Banken, sondern gleich auch deutsche Fußball-Präsidenten und Würstchenproduzenten wurden große Nummern im explodierenden Schatten-Business der globalen Finanzmärkte.

Und alle beteiligten sich hektisch daran, den Anschluss an die angelsächsischen Vorsprünge aufzuholen. Selbst als die Spatzen den Crash bereits in den Vorgärten der deutschen Politik von den Dächern sangen, war diese bemüht, ihre Freundschaftsdienste ins schier endlose auszuweiten.

„Dabei sollte nicht nur Kapital für Investitionen in deutsche Unternehmen und Infrastruktur günstig mobilisiert werden können, sondern auch eine „tiefere Fertigung von Finanzdienstleistungen“ am Standort Deutschland erfolgen.“1
In der alt-bewährten deutschen Gründlichkeit haben Politik und Sachverständigenrat im Gleichschritt mal so richtig Gas gegeben und „mit den Promise- und Provide-Programmen seit 2000 in Zusammenarbeit mit den Banken das wohl größte Verbriefungsprogramm (58 Transaktionen) in Europa geschaffen.“2

Doch damit nicht genug. Und alle wussten es, dass es hierbei um hochspekulative Finanzderivate ging.

„Das im Bereich der synthetischen Verbriefung3 bereits erfolgreich begonnene(n) Projekt „Förderung des deutschen Verbriefungsmarktes“ konnte – wie sich heute zeigt – auf das Segment des True-Sale-ABS-Marktes erfolgreich ausgeweitet werden.“4

Und so haben mit diesen forderungsbesicherten Wertpapieren zuallererst die Banken große Teile ihrer nicht immer im Prime Standard vergebenen Kreditforderungen handelbar gemacht und sich günstig refinanziert. Der Erfolg auf dem ABS-Markt weckte natürlich bei den ohnehin taktgebenden politischen Stellen Begehrlichkeiten und vorsichtig wie die deutsche Seele nun mal ist – der Ausdruck: German Angst machte damals seine Runde durch die Finanzmärkte – packten die Finanzjongleure hierzulande Verbriefungspakte mit, aus deutscher Sicht erheblich weniger Risiken. Mit der „TSI GmbH (wurde) eine Gesellschaft etabliert, die durch Bereitstellung von deutschen Zweckgesellschaften und Gütesiegeln für Transaktionen die ABS-Aktivitäten an den Standort Deutschland (ABS made in Germany) bindet.“5

Und das „Made in Germany“ funktionierte bestens. Auf dem größten europäischen Kreditmarkt entstand ein aktiver Verbriefungsmarkt zwar viel später als in den angelsächsischen Ländern und mit dem Jahr 2000 setzte der deutsche Markt überwiegend auf sog. Balancesheet-Transaktionen, also solche, die vorwiegend für Assets mit realwirtschaftlichem Hintergrund genutzt werden. Damit wurden vor allem die Absatzfinanzierungen von Banken und der Automobilwirtschaft, für Leasing- und Handelsforderungen deutscher Unternehmen sowie für die Verbriefung von Mittelstandsfinanzierungen deutscher Unternehmen erleichtert und Anlagevermögen wie die entsprechenden Verbindlichkeiten aus den Bilanzen der Banken und Unternehmen in die eigens dafür gegründeten Zweckgesellschaften ausgelagert. Zudem bekamen diese ‚Pakete‘ überwiegend ein Triple A Rating bzw. ein nur gering schlechteres.

Die Rahmenbedingungen waren mit den deutschen Plattformen PROMISE und PROVIDE unter der Schirmherrschaft und Kontrolle der KFW und der Gründung der TSI im Jahr 2004 hervorragend. Die TSI erließ eigene Transparenz- und Qualitätsstandards ganz im Geiste des Made in Germany und schuf einen Nachfrageschub, der bis zur Krise 2007 eine echte dynamische Entwicklung auf hohem finanztechnischen Qualitätsniveau nahm. In der Entwicklung des deutschen Verbriefungsmarktes spielten bis zum Jahr 2007, als die Finanzkrise einsetzte, die synthetischen Verbriefungen, insbesondere von Mittelstandsfinanzierungen, eine bedeutende Rolle.

Zwischen 2008 und 2009 kam der Interbankenmarkt ziemlich zum Erliegen und auch die in Deutschland emittierten synthetischen Verbriefungen lagen träge in den Tresoren, obwohl diese keine Qualitätseinbußen hinnehmen mussten. Die Banken waren nun darauf angewiesen, sich über die EZB zu refinanzieren. Dazu nutzten sie in Deutschland wieder neu Verbriefungen von Teilen ihrer Kreditportfolios, die sie nun aber nicht auf die Finanzmärkte warfen, sondern für sich einbehielten und die Triple A Tranchen bei der EZB als Sicherheiten für ihre Refinanzierung hinterlegten.

Das Volumen an platzierten wie an einbehaltenen Verbriefungen erreichte zwar nicht mehr die Größenordnungen wie in den Jahren bis 2008, aber sowohl in Deutschland wie weltweit sind beide wieder stetig ansteigend, wobei der deutsche Markt mit seinen synthetischen Produkten im Allgemeinen besser durch die Krise gekommen ist als die meisten europäischen und amerikanischen Märkte; bis auf einige Ausnahmen niederländischer und englischer Produkte.

In der Rückschau auf die Krisenjahre bis 2014 wird heute einhellig in Fachkreisen festgestellt, dass die Verluste aus Verbriefungen im Zuge der Finanzkrise fast ausschließlich aus US-Subprimeverbriefungen herrührten. Sie waren gewissermaßen die Trigger der Krise, erklären aber den Gesamtverlauf der Krisenjahre nicht. Der Kern der aktuellen Finanzkrise, deutlich sichtbar seit 2015, kann nicht auf amerikanische Subprimekredite reduziert werden. Waren die Subprimes politisch gepuschte privatrechtlich organisierte Produkte, so wird nun zunehmend deutlich, dass die Finanzkrise noch eine zweite Linie ausgeprägt hat, die bereits auf Vorgänge in den letzten zwanzig Jahren zurückgeht, die Staatsverschuldungen, allen voran der europäischen Staaten.

Im Zuge der Krisendiskussion wurden samt und sonders alle Verbriefungsarten in einen ideologischen Topf geworfen. Unter Subprime versteht man nun nicht nur die Verbriefung von US-Immobilen-Hypotheken, sondern auch „Subprime-Staatsanleihen“ wie etwa die verschiedenen Griechischenland-Anleihen und auch sämtliche Balancesheet-Verbriefungen bzw. synthetischen Verbriefungen. Haben die privaten Investoren, vornehmlich französische und deutsche Banken einem 70%igen Gläuberverzicht mittlerweile zustimmen müssen, sind alle Verbriefungen im öffentlichen Diskurs in Mißkredit geraten. Gleichwohl sich europäische Verbriefungen hingegen über die Krisenjahre hinweg als sehr stabil erwiesen und deutsche sogar hervorragend bewährt haben, werden sie als hoch-toxisch vielerorts bewertet.

Die deutschen Auto- und Mittelstandstransaktionen liegen sogar in ihren tatsächlichen Ausfällen unter den Erwartungswerten, wie sie vor der Krise von Ratingagenturen und Beteiligten geschätzt wurden. Auch die deutschen Verbriefungen von Leasing- und Handelsforderungen deutscher Unternehmen zeigen keine Ausfälle. Dass diese Aussichten überhaupt nicht vergleichbar sind mit den Ausfallerwartungen toxischer Staatsanleihen wird wenig nach wie vor beachtet. Sieht es dort so aus, als wären die Geschäftsaussichten mindestens positiv, also die privaten Renditerwartungen und Risikobewertungen überdurchschnittlich, so steht hier fest, dass an der Vergemeinschaftung der Staatsverluste kein Weg vorbei geht. Durch Zins- und Ausgleichsprologierung von über vierzig Jahren bleibt die unfreiwillig freundschaftliche Beziehung zwischen, zur Zeit vor allem Griechenland und den Steuerzahlern anderer europäischer Länder auf sehr lange Sicht erhalten.



Anschauen – nicht anfassen!


„Der Sachverständigenrat unterstützt die Bemühungen um ein Regelwerk, das unter Beibehaltung des freien Kapitalverkehrs die Stabilität des internationalen Finanzsystems (…) gewährleistet. Die vielfältigen Diskussionen haben klargemacht, dass eine völlig neue Finanzordnung nicht gebraucht wird und dass ein Übermaß an Regulierung mehr Nachteile als Vorteile hätte.“6

Nicht, dass der Sachverständigenrat ohne Zweifel gewesen wäre und spricht also an gleicher Stelle von „(…) festgestellten Funktionsmängeln (…)“ und hält abschließend fest: „Einen Königsweg zur Vermeidung von Finanzkrisen in der Zukunft gibt es allerdings nicht.“ Die Funktionsmängel aber sollen allein an „konkreter Stelle“ behoben werden, also durch allokative Optimierungen und deuten keineswegs auf Imponderabilien im System hin. Im Zweifel überwiegt also dann doch das Vertrauen in die Stabilität der Marktprozesse.

Dies befördert zusätzlich auch noch die immer weiter in Richtung Mathematik getriebene Wissenschaft, die einmal als sog. Rationale-Erwartungs-Ökonomik und in einem Spezialfall dessen als stochastischer Ansatz zur Markteffizienzhypothese imponieren. Die erstere wurde von John F. Muth (1961) entwickelt und später von Robert E. Lucas verbreitet, die andere wurde im Jahr 2013 von Eugene Fama zusammen mit Robert J. Shiller und Lars Peter Hansen entwickelt. Selbstverständlich gab es reichlich Nobelpreise dafür für alle, wobei die Anwendungs- bzw. Validierungszeiten solcher Theoreme immer kürzer werden, bevor die Nobelpreise deren Richtigkeit vermuten und auszeichnen. Beide Ansätze haben frühere in die Geschichte der widerlegten oder nicht eingetreten Hypothesen geschickt, so das Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem wie auch die interventionistischen Annahmen, die mit dem Namen Keyns zwar nicht ganz zurecht, aber mittlerweile diskursiv verbunden sind.

Schaut man sich die Entwicklung der Volkswirtschaften unter methodologischen Gesichtspunkten an, dann kann man feststellen, dass zunehmend eine Hauptrichtung sich dahingehend entwickelt, was man andernorts Big Data Mining nennt. Ob es sich dabei um die neoklassische Gegenposition zur Ricardianische Äquivalenz-Hypothese und dessen ordopolitische bzw. fiskalische Implikationen handelt, die dann weiterentwickelt von Barro zum Versuch der Begründung der konjunkturellen Wirkung des keynesianischen Deficit spending wurde, oder ob es sich wie bei der Markteffizienzhypothese im Kern um die effiziente Verwendung von Informationen handelt, in beiden Fällen haben empirische Untersuchungen einerseits nachgewiesen, dass die ordopolitischen Maßnahmen des Deficit spendings nicht immer so griffen wie vermutet und erwünscht7 und andererseits war nicht genügend empirisches Material vorhanden, um stochastische Verfahren überhaupt sinnvoll bzw. verlässlich einsetzen zu können.

Dabei müssen wir feststellen, dass, je mehr die einen sich in die Mathematik vergraben, die Politik ihr ’noli me tangere‘ alternativlos postuliert. Die Auferstehung der Politik aus einer bloßen Leitlinien-Kompetenz zu einem, mittlerweile auf allen wirtschaftsrelevanten Ebenen aktiv mitspielenden Akteur wird andererseits in einem immer müder werdenden Experten- und Empfehlungswesen konterkariert mit der schon fast flehentlichen Bitte, doch weitgehend auf jede Form der Intervention in die Märkte zu verzichten. Das Beste, was Makropolitik überhaupt zu Stande bringen könnte, wäre eben ein an Preisstabilität und Schulden- bzw. Haushaltskonsolidierung orientiertes Handeln. Gleichfalls übt man den großen Kotau vor dem „Arbeitgeber“, indem man im SVR festhält:

„Den Schlüssel für die Stabilität der internationalen Finanzordnung – darüber herrscht Einvernehmen – liegt bei den einzelnen Staaten selbst; sie müssen bei den Marktteilnehmern positive Erwartungen in Bezug auf Konsistenz und Verlässlichkeit ihrer Wirtschaftspolitik erzeugen.“8

Wie man weiß, stirbt in schwierigen Zeiten der Freundschaft die Hoffnung zuletzt, aber dieses zwischen Politik und Wirtschaftswissenschaften bindende Prinzip Hoffnung scheint nun etwas ausgeleiert, also für die Politik kaum mehr brauchbar zu sein. Denn, was man der Wissenschaft von seiten der Politik noch einigermaßen verzeihen konnte, war die Schwankungsbreite der fundamentalen Wirtschafts- und Konjunktur- bzw. Arbeitsmarktdaten und -Prognosen. Dass sie aber trotz einer recht aufwendigen und hoch dekorierten, einvernehmlich auftretenden Wissenschaft kein Wort der rechtzeitigen ‚Warnung‘ vor dem Eintreten der Finanzmarktkrise haben verlautbaren lassen, außer an ihren akademisch ungeschützten Rändern, wo ein paar Dissidenten spuken, das hat man in Politikkreisen nicht vergessen.

Das methodisch erzeugte Markt- und Stabilitätsvertrauen war also entweder methodisch fehlgeleitet oder bei aller methodischen und empirischen Präzision nicht vorhersehbar. Wie dem auch sei, entweder war man wissenschaftlich valide, aber politisch unbrauchbar, weil man es eben nicht besser wissen konnte, oder der ganze akademische Apparat war bis dato nicht in der Lage zur Formulierung brauchbarer Eintrittswahrscheinlichkeiten bei der Betrachtung künftiger Entwicklungen. Für die Politik kam dies einer Selbst-Delegitimierung gleich, woraus sie die Legitimität nunmehr für selbst herauslas, es doch vielleicht selbst besser zu können.

Bevor man in der Politik aber auch nur kleinste Anstrengungen der Fehleranalyse unternommen hatte, setzte man sich gleich in Szene. Zwar, ohne großen wissenschaftlichen Anspruch, aber mit der der Politik eigenen Begabung, die fehlende Kompetenz durch Macht zu ersetzen und politisch auf die Pauke zu hauen. Vor allem in Europa, auf dem vermeintlichen Heimplatz, wurde zur Rettung von Griechenland und kurze Zeit später der ganzen EU gebolzt wie zu Herbergers Zeiten. Die Herren Tsipras und ein gewisser Spieltheoretiker mit Namen Varufakis wurden mitten im Spiel eingewechselt und kannten so wenig die neuen Spielregeln, dass man fluchs den einen kalt und den anderen vor das Stadiontor stellte. Kaum waren die kleinen Spielverderber entfernt, grätschte aus vollem Lauf der Syrienkrieg mit seiner Flüchtlingsproblematik der neuen Finanzpolitik aus deutschem Geist der gesamten EU dazwischen.

Rettung nahte aus einer Gegend, aus der man sie kaum erwarten durfte: Mario Draghi, ein waschechter Italiener, genauer Römer, also ein Mann des Mezzogiorno wie man in Mailand sagt, vormals italienischer Bankmanager und Wirtschaftswissenschaftler, zwischen 2002 und 2005 Vizepräsident bei Goldman Sachs, der wohl weltweit systemrelevantesten ‚Schattenbank‘, von 2006 bis 2011 Präsident der Italienischen Nationalbank und Vorstandsmitglied der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel wurde mit dem 1. November 2011 Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), ausgestattet mit voraussichtlich mehr als 2,5 Billionen EURO Liquidität zur Untermauerung seiner Ankündigung: wir werden alle Mittel einsetzen, um den EURO zu retten.

Weniger durch Mathematik und methodologische Feinheiten hinterlegt, überschwemmt die EZB seit Marios zupackender Erkenntnis die europäischen Finanzmärkte, vor allem die Anleihemärkte mit so viel Geld wie es damals in den 60er und Anfang der 70er Jahre einem erging, der in Bellinzona DM in Italienische Lire umtauschte; Kleingeld übrigens erhielt man in Form von Süßigkeiten oder selbst bemalten, wirklich hübschen Zetteln, die man später, wenn man genügend zusammen hatte, im selben Tabacci gegen Espresso z.B. wieder eintauschen konnte.



Auf dem Markt der Eitelkeiten


Natürlich wuchs in der Folge der Finanzkrise das Gezänk zwischen Mainstream und Heterodoxie um den richtigen theoretischen Zugang zur nationalen Volkswirtschaft. Methodendebatten und, meist von jüngeren Nachwuchswissenschaftlern gefordert, ein breiterer Zugang zum Fach mit Berücksichtigung nahe gelagerter Wissenschaften wie Soziologie, ein wenig Philosophie etc. fanden ihren Zugang zum internen Diskurs.

Dabei ist man aber dem Dilemma auf der Methodenseite willentlich oder unwillkürlich nicht näher gekommen; beides nahe an der Blamage. Gegen eine breitere Aufstellung der Wissensbasis lässt sich wohl auch kaum etwas sagen, aber auch dieser Vorschlag dürfte dem dilemmatischen Selbstverständnis der wissenschaftlichen Ökonomie zum Opfer fallen. Sie hat nun mal den Weg als Einzelwissenschaft eingeschlagen, sich der mathematischen Methodik voll und ganz anverwandelt und darauf ihr Selbstverständnis von empirisch gesicherten Erkenntnissen, von wissenschaftlicher Verlässlichkeit und Objektivität begründet.

Es ist ja schon eine alte Binsenweisheit, dass naturwissenschaftliche Methoden in humanen Zusammenhängen so ihre eigenen, unbeabsichtigt Staunen hervorrufenden Schwierigkeiten offenbaren können. Als im Jahr 20159 das irische Statistikamt bekanntgab, dass das Bruttoinlandsprodukt im selben Jahr um sage und schreibe satte 26 Prozent gestiegen sei, ging der Schreck durch alle Glieder der weltweiten Wirtschaftsstatistik-Gemeinschaft. Aufgescheucht machte die internationale Statistik-Community nur kurz den Versuch, diese unadelige Abweichung der Zahlen von Normalnull der realen Produktionsentwicklung zuzuschreiben, aber das war schnell vom Tisch. Man betrachtete die Datenerhebung und Auswertung und kam zu dem Schluss: alles war korrekt nach den Vorgaben der internationalen Statistik-Konventionen ermittelt worden.

Wenn dem so sei, dann kann es mit den Statistik-Konventionen nicht so recht bestellt sein, was wiederum die Statistiker eilig in eine Kommission zusammen rief, um nach der Lösung dieses ach so beschämenden irischen Zahlenwerks zu suchen. Und wie immer in solchen Fällen, wird nicht die Methode auf den Prüfstand gestellt, sondern ein methodisches Element. Und kurze Zeit später konnte die Community freudestrahlend einen neuen Wert, eine neue Maßzahl für die irische Wirtschaft verkünden: aus dem BIP wurde GNI, das irische Bruttonationaleinkommen.

Diese neue Kennzahl war netterweise fast um ein volles Drittel kleiner als das irische BIP, befreite die Statistik vom peinlich wilden Schwanken, mit dem ja eine überhohe Volatilität unterstellt hätte werden müssen, die schon nahe an die Instabilität der Volkswirtschaft eines Entwicklungslandes gerührt hätte.

So kamen zunächst einmal alle ins Ausland transferierten Einkommen in Abzug und so blieben die Gewinne der Tochterunternehmen von ausländischen Unternehmen, anders als beim BIP, wo sie der nationalen Wertschöpfung zugeschlagen worden sind, von dieser unberücksichtigt. Und da man nun einmal dabei war, wurden im Zuge dessen auch die Gewinne von Unternehmen, die zwar ihren rechtlichen Hauptsitz in Irland haben, deren Eigentümer im Ausland sitzen und deren Produktion auch überwiegend im Ausland stattfindet, subtrahiert, bzw. nicht in die nationale Wertschöpfung verbucht, weil diese Unternehmen ja lediglich aus fiskalischen Gründen sich irisch nennen.

Oben drauf packten die Statistiker auch noch Patente und Lizenzen sowie Leasingabschreibungen, die bei den großen US-Companies wie etwa Microsoft Ireland Operations Ltd. und anderen bekannten Namen aus der IT- und Kommunikationsbranche heftig ausfallen können. Ganz nach dem Motto, irisch ist nur, was den Iren pekuniär nutzt, tat die Kommission nichts unehrenhaftes, zumal der neue US-Präsident auch öffentlich damit drohte, alles zu unternehmen, damit die im Ausland verbuchten Gewinne heimgeholt und dem US-Fiskus zugeführt werden müssten. Dem Mann mit der blöden Tolle sollte man besser glauben und so sagten sich die Iren, dann raus aus den Büchern mit den Gewinnen, ob kurzfristige oder langfristige.

Nun wird das quartalsweise ermittelte, neue irische Bruttonationalprodukt, auch weiterhin noch so errechnet, wie zuvor, nämlich durch formalisierte, elektronische Verfahren, die nicht in der Lage sind, politische Entscheidungen adäquat zu berücksichtigen, wie auch nicht zwischen tatsächlichem und sogenanntem intangiblen Kapital unterscheiden zu können. Die Sache mit den mathematisch-statistischen Verfahren ist und bleibt verfahren, insofern sie sich an einem Ideal orientiert, das zwischen einer Wirklichkeit und seiner formalisierten Repräsentanz nistet. Es ist leidenschaftlich verbunden mit ‚Wenn-Dann-Sätzen‘, deren Änderungen aber möglichst selten in der Wirklichkeit stattfinden sollen.

Wenn Irland ein normales Land wie alle anderen wäre, dann würde es sich wohl kaum jemandem erschließen, warum hier, anders als überall dort, zur Beurteilung der Stabilität öffentlicher Finanzen der einheimische Schuldenstand nicht auf das BIP anstatt des neuen GNI bezogen werden sollte? Wenn sich in Irland wie in anderen Ländern Großunternehmen ansiedeln, warum sollte nicht hier wie in allen anderen Ländern dies auch mit dem bilanziellen Geschäftsjahr und der Hinzurechnung des mitgebrachten Kapitalstocks geschehen? Natürlich wird dann ein erkleckliches Sümmchen der irischen Volkswirtschaft mit einem Mal hinzu addiert, was dramatische Ausschläge kaum vermeiden kann und sich ebenso natürlich auch auf die Seiten, wo Importe und Investitionen stehen in dicken Summen widerspiegelt?

Wenn Irland ein normales Land wäre, dann könnte es wie alle anderen es auch tun, auf das Geld, das ausländische Unternehmen auf der grünen Insel verdienen, dieselben Steuern erheben wie für irische Unternehmen. Das hätte auch den Vorteil, dass mit der Knete auch die nicht unerheblichen Staatsschulden des Landes abgetragen werden könnten, was auch zu einem besseren Rating und damit zu einer besseren Refinanzierung der Staatsausgaben führen würde, ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe anderer Vorteile; und hier würde es sich nicht einmal um die vielgehasste Austeritätspolitik made in Germany handeln.

Da aber Irland kein Staat wie jeder andere in der EU ist, zwar zum EURO, aber nicht zum Schengen-Raum gehört, hat die irische Politik beschlossen, ein Steuerparadies zu werden und zu den wirtschaftspolitischen Vorteilen gleich noch zweimal zusätzlich zu verdienen. Einmal durch den EURO-Wechselkurs und durch Draghis unermüdlich vorgetragenes ‚Frau-Holle-Prinzip' – das sich hoffentlich nicht in den nächsten Jahren als Märchen herausstellen wird, wofür aber vieles spricht. Günstiger Wechselkurs und günstige Zinsen spülen Summen in Irlands Kassen und die nur formal ausgewiesen ausländischen Einkommen, die ja deshalb nur formal zu Buche schlage.



Mit fingerdicker Kosmetik zukleistern


Statistiker sind ja meistens weder Politiker noch Volkswirte und so gelingt ihnen nicht selten heiteren Sinnes und leichter Hand so mancher große Wurf. In Irlands neuer Statistik erkannten sie zwar eine fatale Abweichung von ubiquitären statistischen Normen, sie aber sahen darin einen außerordentlichen Gewinn an Klarheit und statistischer Präzision, ganz nach dem Grundsatz: Omas Kuchen war doch immer der beste. Demnach zeige das GNI nun besser und reeller, was in der irischen Volkswirtschaft vor sich gehe und hätte, indem es sich lediglich auf das physische Kapital beziehe, mit dem die heimische Produktion untermauert ist, auch mehr Relation zur Beschäftigungsentwicklung. Blöd nur, dass mit der Exterminierung des sog. intangiblen Kapitals auch die politisch gewünschten Effekte desselben, nämlich für mehr Beschäftigung zu sorgen und Irlands Jugend von den Straßen zu kriegen, gleich mit eliminiert wurde. Wie also Irlands Beschäftigung, ohne die schönen Effekte des intangiblen Kapitals und durch steuerparadiesische Politik sich entwickelt hätte, wird man fortan so leicht nicht mehr herausfinden.

Mit der neuen Berechnungsmethode ergab sich auch eine Staatsschuldenquote von ca. 106% zu etwa 73% im Vergleich zum europäischen Durchschnitt; wer’s glaubt. Dies mag hoch bzw. niedrig sein, je nachdem, ob man den Durchschnitt oder Griechenland und Italien zum Vergleich heranzieht. Mit dem Vergleichen ist es aber so, dass ein nur relationales Vergleichen etwas ganz anderes ist, als ein direktionales. Und wir vermuten daher ohne verschwörungstheoretische Absichten, dass das Wohlgefallen, dass den IWF und die Statistikbehörde Eurostat gleichermaßen mit der Einführung des neuen Indikators für das Bruttonationaleinkommen Irlands befiehl, darin vielleicht zu suchen ist, dass ohne diesen die Quote wohl noch schlechter ausgefallen wäre, hätte man als Nenner das BIP gelassen.

Alle die einzelnen Wägbarkeiten führen aber unweigerlich zu der nicht unbegründeten Vermutung, dass es bei den Iren gar nicht so sehr um die Iren geht, sonder um die volkswirtschaftlichen Statistiken ganz generell. Und da sieht es schlecht bestellt aus mit dem Ruf, eine verlässliche empirische Methode zu sein. Wir sagen, das kann sie gar nicht sein. Denn die Absurditäten in den irischen Kennzahlen traten auf, nachdem einige wichtige Änderungen der internationalen Statistikregeln umgesetzt worden und im Fall Irlands zutage getreten sind.

Die Geschäftsmodelle und Geschäftspraktiken von Apple, Google bzw. Alphabet, Amazon, Facebook und Microsoft, um nur die größten zu nennen, stellten die Statistik insgesamt vor neue Probleme, denn sie erwirtschaften, auch wenn sie aktuell sogar teilweise Riesenverluste ausweisen, ihre Gewinne hauptsächlich mit geistigem Eigentum und dessen Lizensierung sowie der Vermarktung von Profil- und Bewegungsdaten ihrer Kunden und Plattform-Nutzer. Würde man heute eins der Unternehmen verkaufen, dann wiesen die Due-Diligences ein geradezu abenteuerliches Verhältnis zwischen Sachwert und good will zugunsten des good will aus.

Das ist wie damals mit dem Nobelpreis für Obama, den der bereits bekommen hatte, bevor er sein Versprechen, die US-Soldaten aus Afghanistan zu führen und Guantanamo zu schließen, überhaupt realisieren konnte, war er doch noch nicht als Präsident vereidigt. Was aus diesem ‚Kredit‘ geworden ist, ist bekannt. Er blieb unbeglichen. Und ebenso war es auf dem sog. Neuen Markt, wo Ideen bzw. manchmal sogar Geschäftsmodelle spekulativ bewertet wurden, ohne dass die Unternehmen aus der Gründungsphase heraus waren. Was Banken wie Börsenspekulanten den Unternehmen an good will, heute sprechen wir auch von „produzierten nichtfinanziellen Vermögenswerten“ zugesprochen hatten, nahm im Jahr 2000 ein ebenso übertrieben verheerendes Ende wie der Anfang des Marktes übertrieben optimistisch war.

Und genau diesen good will wollen die Statistiker nun aus ihrem Zahlenwerk herausrechnen, was für eine Idee. Schauen die traditionellen Statistiker hier in die Glaskugel und versuchen wahrzusagen, indem sie mit dem in der Kugel erblickten, geistigen Eigentum auch höhere Ausgaben für dasselbe sowie für Forschung und Entwicklung vor ihrem geistigen Auge vermuten und diese geistig versammelten Vermutungen als ‚Investitionen‘ bezeichnen, die sich dann über einen langen Zeitraum auszahlen – also rechnen lassen. So wird natürlich das BIP höher, da es einen enormen vermuteten good will enthält und dies betrifft nicht die irische Statistik allein.

Lease und Lease Back-Geschäfte, der Handel mit Flugzeugen, Schiffsverbriefungen bzw. -beteiligung und vieles andere mehr werden in den neuen Statistiken auf die Waagschale geworfen und nicht mehr an die Perspektive der Eigentumsrechte gebunden, die ja in der volkswirtschaftlichen Statistik gleichzeitig verknüpft sind an den „Standort“ des Eigentümers, nicht an den des Nutzers. Aber wie den gordischen Knoten durchschlagen, der die weltweite Vernetzung und Verbriefung von allem und jedem zusammenzieht?

Der Vorschlag der Statistiker ist so einfach wie populär. Lasst uns zu Standards zurückkehren, die „sich an der physischen Produktion von Gütern und Diensten durch Einsatz von Arbeit ausrichten. Denn wenn die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen immer schlechter mit der Entwicklung des Arbeitsmarkts und der Einkommen harmonierten, schade das der Glaubwürdigkeit und dem Informationsgehalt dieser Rechenwerke.“10

Mit der Statistik sind wir also wieder auf dem Rückmarsch ins Industriezeitalter bzw. der Epoche der industriellen Wertschöpfung. Die sich ausbreitende Verzahnung von Wirtschaft und Politik kümmert uns dann wenig, können wir sie ja auch kaum oder gar nicht ‚berechnen‘. Dass hier die klassische Betrachtung der Wirtschaft aus den traditionellen und von Karl Marx eingeführten Bedeutungen von Kapital und Arbeit für die nationale Wert-Produktion wieder als Lösung für die Probleme der Statistik aus dem Hut gezaubert wird, sei an dieser Stelle im Vorgriff auf Späteres nur kurz vermerkt.

Es komplementiert mit einem anderen, seit einigen Jahren zunehmend sichtbaren Prozess: der politischen Renationalisierung wirtschaftlicher Prozesse, nicht zufällig besonders im Bereich Handel virulent. Populistische Renationalisierungsdiskurse wie man sie in den USA und in Europa notiert, gehen einher mit der Zersplitterung nationaler und internationaler Rechtsauffassungen und Gerichtsbarkeiten, der Zersplitterung ordnungs- und fiskalpolitischer Systeme, dem Zerfall internationaler (Regierungs-) Organisationen u.a.m. innerhalb eines Vorgangs, den man plakativ überall als Globalisierung indexiert begegnet.



Grandma’s Kitchen


Der Ausdruck Mainstream hat in der Wissenschaft eine etwas andere Bedeutung als im landläufigen Gebrauch. Meint er hier eine Anpassung an die herrschende Meinung, weil man es nicht besser weiß, meint er dort, trotzdem man es besser weiß. In der Mainstream-Volkswirtschaft sichert die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards und der Eingangsbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens ein erkleckliches Einkommen, hohe Reputation und attraktive Nebenverdienste. So ist es auch kein Zufall, da ja die Mainstream-Ökonomie auf vielfältige Weise mit der Politik verbandelt ist, dass sie wenig Schwierigkeiten damit hat, sich der herrschenden Politik-Meinung anzuverwandeln.

Schwenkt Politik in Richtung Renationalisierung, folgen ihr behend ihre geistigen Knechte, was ihnen fortan den Zugang zu den materiellen wie ideellen, gut gefüllten Töpfen in Forschung und Lehre, Expertenwesen und öffentlichem Diskurs, nebst all‘ den angenehmen Zusatzleistungen, die man unter ‚travell expenses‘ verbuchen kann, sichert. Da macht es dann durchaus auch einen Sinn, „Teil einer Herde“ zu sein, nur ist das kein schicksalshafter Status und wenig glaubhaft, suggeriert das naive Ahnungslosigkeit.

Zurück an Grandmas Herd zu den altbewährten Rezepten kann da Wunder wirken, ist doch der geistige Trend als „Retro“ heute generell auszumachen. Die Politik der Staaten der EU gibt ein derart peinliches Bild davon ab, dass wir es uns hier ersparen, darauf näher einzugehen. Was aber nicht der Richtigkeit entspricht, ist die politische Diskursbeschickung mit derlei Absonderungen, dass sie die Hinwendung der Wähler zu populistischen Parteien und so auch den Zerfall der EU abwehren musste, als sie in ihrer nationalen wie europäischen Politik wieder mehr nationale Interessen berücksichtigen musste.

Mit Ursache vor Wirkung hält es die Politik ja überall auf dem Globus nicht ganz so verbindlich, wie man spätestens seit dem sog. Brexit weiß. Was mal wieder und viel schwerer wiegt, ist, dass die politische Einmischung in die Wirtschaft als Akteur besonders auf den Finanzmärkten eine in vielerlei Hinsicht unrühmliche wie desaströse Rolle gespielt hat. Und dieses Spiel ist noch nicht zuende; es beginnt gewissermaßen gerade erst.

Und dabei geht es darum, Erkenntnisse, so sie denn vorhanden sind, aus der noch andauernden Finanzkrise so umzusetzen, dass möglichst nicht gleich eine solchen Ausmaßes durch den Hintereingang wieder eintritt. Eines der großen Ungleichgewichte wirtschaftlichen Handelns, und die hat keine Ökonomik gerne, wird heute als der viel zu große
Leistungsbilanzüberschuss der deutschen Wirtschaft diskutiert. Den mögen, so liest man, weder die anderen Europäer noch die Amerikaner, schon gar nicht der IWF.

Die deutsche Wirtschaft unisono mit dem zuständigen Ministerien der Wirtschaft und Finanzen spricht davon, dass der Überschuss einfach durch die starke Nachfrage nach den guten Waren, made in Germany, verursacht ist. Andere, vor allem europäische Politik-Kollegen in den Ländern oder den EU-Institutionen sehen ihn verursacht durch die niedrigen Löhne – seit der Agenda 2010 – in Deutschland. Versiertere Ökonomen, vor allem jene, die ihr Auskommen als Mezzopolitikerinnen und -Politiker im IWF z.B. gefunden haben, erkennen im Leistungsbilanzüberschusss einen rechnerischen Überhang von Ersparnissen gegenüber Investionen einer Volkswirtschaft, was eher einer lehrbuchaffinen, definitorischen Erklärung gleichkommt, ist ein Leistungsbilanzüberschuss ja durchaus auch zu verstehen als Äquivalent des nationalen Kapitalexports.

So weit so gut. Alle empfehlen der deutschen Wirtschaft, weniger zu sparen, dafür mehr zu investieren. Mit den Sparern nur meinen sie nicht die Wirtschaft, sondern die Erwerbstätigen und die haben bei der derzeitigen Situation der Altersversorgung und ständig steigender Mieten wenig Interesse an Investitionen bzw. erhöhten Konsumausgaben. Aber eigentlich argumentiert ja auch gar nicht die Wirtschaft mit der deutschen Wirtschaft. Es mischen sich ein in das deutsche Wirtschaftsgeschehen vor allem der IWF und die amerikanische Administration, denen der deutsche Leistungsbilanzüberschuss bei gleichzeitig eigenem Defizit in Billionenhöhe den Kamm hochstellt.

Die USA versammeln in ihren Büchern mehr als ein Drittel aller Leistungsbilanzdefizite weltweit. Dass sie da nervös werden ist verständlich, aber was sie der deutschen Volkswirtschaft vorschlagen zum Defizitabbau, das könnten sie auch sich selber mit umgekehrtem Vorzeichen raten: Löhne senken, weniger auf Pump konsumieren, Investitionsprogramme auflegen in Infrastruktur, Bildung usw. Da aber die Verantwortung des US-Defizits wenig mit der Wirtschaft, aber mehr mit der Politik zu tun hat, müssten die, die zu großen Teilen das Problem sind, gleichzeitig Hauptbestandteil der Lösung sein; schöne Idee.

Die US-Administration müsste Haushaltsdisziplin üben; das hat sie noch nie. Die Fed müsste nicht nur von der lockeren Geldpolitik Abschied nehmen, was sie zur Zeit versucht und auch riesige Anleihepositionen wieder in den Markt bringen, was den US-Finanzmarkt enorm beeinflussen würde mit allen Folgeerscheinungen, was wenig ratsam ist. Die US-Konsumenten müssten höhere Haftungen bei ihren Hypothekendarlehn einbringen, also Eigenkapital, was sie nicht wollen und meistens auch nicht haben. Und sie müssten Abstand nehmen davon, Häuserdarlehn für weitere Konsumausgaben zu beleihen; manch ein US Bürger verfügt über ein Dutzend Kreditkarten; was für ein Irrsinn.

Die US-Administration verspürt wenig Lust, an ihrer und der wirtschaftlichen Situation ihrer Bürger etwas zu ändern. Zumal der Dollar als Leitwährung auch mit hohen Defiziten bei der staatlichen wie der privaten Verschuldung auch in Zukunft die Kreditwürdigkeit der USA einigermaßen garantiert. Und solange der EURO sich selbst oder durch geeignete Maßnahmen der USA nicht zu stabil in einem günstigen Wechselkurs zum Dollar wird, wird sich so schnell daran auch nichts ändern.

Also bleibt es bei den Rezepten aus Grandmas Küche: einem exzessiven Neokeynsianismus das Wort reden, radikaler als in den theoretischen Werken selbst, und Defizite sich einfach entwickeln lassen bei gleichzeitigem Abbau von allen Schranken, die eine Kapitalallokation in den Dollar und die US-Wirtschaft bzw. die US-Finanzmärkte behindern könnte. Die neuste Erfindung, die an Frivolität kaum noch zu überbieten ist, ist die Politik der Russland-Sanktionen, die den Aufbau neuer Energiemärkte in den osteuropäischen Ländern befördern soll, mit leichtem Nachdruck unterstützt durch Aufbau eines Raketenabwehrschildes in denselbigen.

An die 1.000 US-Militärbasen gibt es weltweit. Russland verfügt über 20 und China neuerdings über eine am Horn von Afrika. Russland und China werden als militärisch bedrohlich angesehen, durchaus im Diskurs der USA so befördert, was jene Politik wohl weiterhin unterstützt, die bei der Einweihung des neuesten Flugzeugträgers, der USS Gerald Ford einmal mehr stolz von: That’s a hundred thousands tonnes of politics“ spricht.



Anmerkungen:

1 Asmussen,J: Verbriefung aus Sicht des Bundesfinanzministeriums - in: Zeitschrift für das
gesamte Kreditwesen 19/2006, S. 10 ff - PDF
Zu den verschiedenen Assetklassen des sog. True-Sale-ABS- Marktes weitere Information in true-sale-international.
Das Wasserfall-Prinzip - in true-sale-international.

2 Asmussen,ebenda

3 Die synthetische Verbriefung ist eine spezielle Variante der Verbriefungen, bei der nicht Forderung selbst (hierbei entstehen Asset Backed Securities) sondern das damit verbundene Risiko (hierbei entstehen Kreditderivate) verkauft und in handelbare Wertpapiere umgewandelt wird.

4 Asmussen, ebenda. Eine Zweckgesellschaft (englisch special purpose vehicle, kurz SPV) verwendet ihre Mittel ausschließlich zum Erwerb von Forderungen meist mehrerer Gläubiger und verbrieft sie zu einem Wertpapier. Die Zahlungsansprüche werden durch den Bestand an Forderungen gedeckt, die auf die Zweckgesellschaft übertragen werden. Zusätzlich können die Forderungen durch die jeweils eingeräumten Sicherheiten, die über einen Treuhänder zugunsten der Inhaber des forderungsbesicherten Wertpapiers gehalten werden, besichert sein.

5Die Bilanzexterne Finanzierung (englisch Off-balance-sheet) ist ein Begriff für ein Finanzierungsinstrument aus dem Finanz- und Rechnungswesen, unter dem eine bilanzneutrale Finanzierung zu verstehen ist. Vermögensgegenstände und Schulden werden hierbei meist in - eigens zu diesem Zweck gegründete - Zweckgesellschaften ausgelagert, die nicht in den Konsolidierungskreis des berichtenden Unternehmens fällt (Wikipedia).

6 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR);
Jahresgutachten 1999/2000: Wirtschaftspolitik unter Reformdruck, Stuttgart 1999, Ziffer 52 - in PDF - SVR 1999

7 James M. Poterba, Lawrence H. Summers: Recent Evidence on Budget Deficits and National Savings. 1987, NBER Working Paper No. 2144; Auszug aus Finite lifetimes and the effects of budget deficits on national saving. 1987, Journal of Monetary Economics, Volume 20, Issue 2, S. 369–391.
Leonardo Leiderman, Mario I. Blejer: Modeling and Testing Ricardian Equivalence: A Survey. 1988, Staff Papers (International Monetary Fund), Vol. 35, No. 1 (März, 1988), S. 1–35.

8 SVR 1999: Zif. 48.

9Zum GNI vgl. Norbert Häring - in Handelsblatt print: Nr. 140 vom 24.07.2017 Seite 012 / Wirtschaft & Politik

10 Häring, ebenda.



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